Der Betrachterstandpunkt


Als Betrachter wendet man sich einer Sache längere Zeit hin und damit gleichzeitig weg von sich selbst. Es entsteht ein Gegenüber. Man erlebt sich gegenüber einer Form, der Natur, einer Pflanze oder gegenüber einem anderen Menschen, einer Situation, etc. Der Betrachterstandpunkt ist eine Konfrontation mit etwas äußerem. Dies erfordert stets neue Wachheit, Aufmerksamkeit und Konzentration auf etwas äußeres. Die Tätigkeit von sich selbst loszulassen und zu einer Sache Beziehung aufzubauen, beschreibt Heinz Grill als erste und bedeutsame Stärkung des Selbst des Menschen. Man kann es als eine Form der Kunst beschreiben.

Bewusstes Wahrnehmen und Loslassen von Gewohnheiten und Gefühlen

Wenn man ein Objekt bewusst betrachten will, reicht es nicht aus, diese nur “anzuschauen”. Alte Gefühle, Gedanken und Gewohnheiten, die man eventuell mit dem Objekt verbindet muss man loslassen, und eine neue Sicht auf das Objekt herstellen. Diese automatisch entstehenden Gefühle stammen aus alten Erinnerungen und Gewohnheiten – sie haben nichts mit dem Objekt zu tun. Reagiert man zum Beispiel nur emotional, tritt der Sache nicht wirklich bewusst gegenüber sondern bleibt bei seinen Gefühlen. Indem man sein Denken bewusst mit der Wahrnehmung verbindet, beispielsweise mit einer Frage eine Landschaft betrachtet, stellt man eine bewusste Beziehung her.

“Alle zu früh gewonnenen Erfahrungen der Einheit sind fast ausschließlich nur von emotionaler, gebundener Bedeutung und sind der wahren Bewusstseinsarbeit hinderlich. Indem eine sehr klare, geordnete Aufmerksamkeit mit einer konkreten Hinwendung und gedankliche Aktivität entstehen, ordnen sich die Gefühle dem Objekt neu hinzu und es entstehen erst mit dieser Form der organisierten Aufmerksamkeit die günstigen Beziehungsverhältnisse für die weitere Entwicklung von seelischen Qualitäten.”

(Heinz Grill. Die Entwicklung von Aufmerksamkeit, Konzentration und Beziehungsfähigkeit. Seelendimension des Yoga.)

Die Lenkung der Sinne

Als Betrachter kann man lernen, seine Sinne bewusst zu führen und zu lenken. Man kann mit den Sinnen nur oberflächlich an einer Form entlangstreifen, oder man kann die Sinne in ihrer Richtung und Bewegung führen lernen. Wenn man etwas Schönes anblickt, kann man sich in seinen eigenen Sinnen verlieren, ausschweifen in Emotionen und schwärmerischen Gefühlen. Damit verliert man das Gegenüber und bleibt fällt wie in sich selbst zurück. Stellt man sich jedoch einen Künstler vor, der eine Landschaft malen oder zeichnen möchte, dann muss er diese bewusst längere Zeit aufmerksam betrachten. Diese Tätigkeit der bewussten Aufmerksamkeit ist lernbar. Durch ihn wird es möglich, objektive Wahrnehmungen zu tätigen.

“Dabei ist zu beachten, das der Begriff Aufmerksamkeit niemals in passiver Hinsicht als reiner Sinnesprozess verstanden werden soll. Die Aufmerksamkeit ist vielmehr ein produktiver und konstruktiver Bewusstseinsvorgang, der mit den Sinnes-wahrnehmungen beginnt, aber sich in den Sinneswahrnehmungen niemals verliert.”

(Heinz Grill. Die Entwicklung von Aufmerksamkeit, Konzentration und Beziehungsfähigkeit. Seelendimension des Yoga.)

Betrachten ist eine Kunst des denkenden Erschaffens und Vorstellens

Rudolf Steiner sagte einmal, wenn er einer Person begegnet, dann erschafft er sie innerlich noch einmal neu in seiner Vorstellung. Indem man sich eine Sache bewusst vorstellt und wahrnimmt, braucht man sein Denken. Man stellt sich zum Beispiel sie Frage, wie ist die Lichtreflexion auf der Oberfläche – oder wie ist das Licht-Schatten-Spiel, oder wie kommen die Formen in ihrer Tiefendimension aus einer Landschaft heraus, oder wie ist das Verhältnis von Himmel zu Erde? Man stellt sich also eine denkende Frage, man wird als Betrachter zum studierenden Beobachter. Umso mehr man diese Betrachterposition einnimmt umso mehr erlebt man sich im Gegenüber der Sache. Man erlebt sich selbst in Bezug zu der Sache. Und man erlebt sich, wie man selbst diese Beziehung herstellen kann. Es ist wie Heinz Grill schreibt eine unterscheidende Gegenüberstellung.



Eine gegenwartsbezogene Wachheit und eine gedankliche Regsamkeit sind notwendig, um von automatisierten, sogenannten Mustern der Gewohnheit, der Gewohnheit, wie man beispielsweise mit dem Sinnesleben umgeht, oder wie man schnellfertig in ein Routineverhalten mit dem Willen ohne Wahrnehmung der Außenwelt übertritt, einen Abstand zu nehmen und damit von den körperabhängigen Emotionen frei zu werden.”

(Heinz Grill. Die Entwicklung von Aufmerksamkeit, Konzentration und Beziehungsfähigkeit. Seelendimension des Yoga.)

Die Objektbeziehung stärkt den Menschen

Im Betrachten muss sich der Mensch im gegenüber einer Sache erleben. Und dieses Gegenüber ist wie eine Konfrontation, sie wirkt stärkend, erkraftend.
Indem man sich selbst dem Objekt denkend annähert, erschafft man ein Bild von dem Objekt. Man erlebt schließlich eine neue Beziehung zur Sache, ein lebendiges Gefühl, eine seelische Empfindung. Es wird das Objekt in einem lebendig. Das ist das Gegenteil von der Emotion, die aus der eigenen Vergangenheit herrührt und nichts mit dem Objekt zu tun hat. Es ist ein Prozess, in dem der Mensch in seinem Selbst aktiv wird, sein Bewusstsein einsetzt und führend steuert. Wenn man immer emotional reagiert, dann würde man nie in diese klare Gegenüberstellung eintreten. Diese Art der Aufmerksamkeit kann gegenüber jedem Objekt- auch gegenüber dem eigenen Körper erfolgen. Heinz Grill verbindet mit dieser bewussten Betrachten auch die Möglichkeit, eine bewusste Beziehung zum Körper herzustellen.

“Indem diese unterscheidende Gegenüberstellung erfolgt in ein Ich und ein Du, ein Selbst oder ein anderes Objekt, entsteht eine gesunde Dualität, die schließlich ein gesundes und über-schauendes Ich fördert.”

(Heinz Grill. Die Entwicklung von Aufmerksamkeit, Konzentration und Beziehungsfähigkeit. Seelendimension des Yoga.)